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Religio

Die Gemeinschaft des KV begründet sich auf dem gemeinsamen katholischen Glaubensverständnis aller Kartellangehörigen. Aus diesem Verständnis heraus sind alle Kartellangehörigen bestrebt, ihr Leben und den Umgang miteinander nach den christlichen Grundsätzen zu gestalten. Sie wollen ihren christlichen Glauben offen leben und sich im Sinne ihres Glaubens in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft engagieren. Für einen, der über die Prinzipien des KV oder eines von ihnen heute einen Aufsatz schreiben muß, ist die folgende Frage ein interessantes Experiment: Was hättest Du zur selben Thematik vor 10 oder 20 Jahren gesagt? Sicher wären dabei die Prinzipien je einzeln und in ihrem Zusammenhang als tragfähig und aktuell zugleich ans Licht gekommen, sicher könnte man heute vom damals Fälligen vieles unverändert übernehmen. Und doch haben sich die geistigen, gesellschaftlichen, menschlichen Kontexte erheblich verschoben. Wäre die Rede, die Papst JOHANNES PAUL II. am Fest des heiligen Albert 1980 im Kölner Dom an die Wissenschaftler richtete, 1970 bereits mit demselben Beifall aufgenommen worden? Hätte ein Symposium zwischen Wissenschaftlern und Bischöfen, das 1982 in Bonn im Anschluß an diese Rede stattfand, damals oder 1960 gar auch die Feststellung treffen können, daß der gegenseitigen Anerkennung von Kirche und Wissenschaft auf beiden Seiten keine unlösbar erscheinenden Fragen mehr im Wege stehen? Und doch geht mit dieser Entspannung der wechselseitigen Beziehungen weithin eine lebensmäßige Ferne, ja Fremde zwischen den Welten der Religion und Wissenschaft und denen, die sie bewohnen, einher. Sicher, auch diese Feststellung müßte behutsam ausdifferenziert werden, um nicht an einer Vielzahl von Phänomenen vorbeizuzielen. Daß Wissenschaft nicht ohne fatale Grenzüberschreitungen die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach der tiefsten Begründung und dem letzten Ziel des Daseins und der Welt lösen kann, ist nichtsdestoweniger weithin im Bewußtsein gerade jener gegenwärtig, die sich mit Wissenschaft beschäftigen. Es wäre indessen problematisch, mit Zufriedenheit festzustellen: Es gibt wieder eine neue Offenheit für die religiöse Dimension. Jugendsekten und KHOMENI gehören in das Bild eines Comeback von Religion ebenso wie die Aufbrüche geistlicher Bewegungen in der Dritten Welt und im alten Europa, wie die Unbefangenheit junger Menschen gegenüber großen Zeugen des Lebens aus dem Evangelium, wie aber auch eine diffuse Gefühligkeit, die sich damit schwer tut, die Übersetzung in rationale Rechenschaft und lebensmäßige Verbindlichkeit zu leisten. „Religiös ohne Kirche" heißt eine vielbeachtete, von KARL FORSTER herausgegebene Untersuchung (Mainz 1977). Sicherlich, es gab auch schon 1960 Studentenseminare mit dem Thema: CHRISTUS ja - Kirche nein. Doch die Ohnmacht der Vermittlung zwischen religiösem Vollzug und religiöser Institution ist eher noch lastender geworden. Was heißt auf dem Hintergrund alsdann aber: Religion als Prinzip für das Leben des einzelnen Studenten und Akademikers und für eine Gemeinschaft von Studenten und Akademikern? Die Antwort muß thesenhaft, sozusagen als bloße Zielgabe, erfolgen. Wir schließen uns dabei an eine alte und doch je aktuelle Formel christlicher Tradition an, die, seit sie geprägt wurde, die Geschichte des Christentums und seiner Vermittlung mit der Ratio begleitet hat. Es sei gestattet, diese Formel zu erweitern, ihre Dynamik in unsere Situation hinein zu entfalten.

1. Dimension: Glaube sucht das Verstehen (fides quaerens intellectum). Der christliche, der katholische Akademiker kann Gott nicht in einem Getto seines Inneren verstecken, das abgedichtet wäre gegen seine Rationalität. Von allem Anfang an hat sich der Offenbarungsglaube des Volkes Israel und erst recht der Glaube an das menschgewordene ewige Wort des Vaters, an JESUS CHRISTUS, als Gegenposition zu einem bloßen mythologischen und magischen Religiössein verstanden. Offenbarung läßt sich gewiß nicht mehr aus der Vernunft herausrechnen; die andere Qualität, das je Größere, das Je-Mehr Gottes kommt über alle Möglichkeiten der Vernunft in Gottes Offenbarung zum Durchbruch. Aber was da geschieht, ist gerade das Ja Gottes zu dieser Welt, die Freisetzung des Menschen, in dieser Welt und nicht eben neben ihr dem erlösenden und befreienden Wort zu begegnen und ohne Angst und Flucht sich der Wirklichkeit der Geschichte zu stellen. Christentum hat sich nie erschöpft in der Sprach- und Denkwelt des kulturellen Raumes, in den es jeweils vorstieß. Und doch hing die Vitalität und Glaubwürdigkeit des Christentums jeweils ab von der Kraft der kritischen Synthese, die das Evangelium, neu Fleisch werdend, Wort werdend, mit dem jeweiligen Denken einging. In einem Klima zunehmender Wissenschaftlichkeit, verführerischer Auswanderung aus der Rationalität in Traum und Ideologie wird christlicher Glaube geradewegs zu einem Impuls, Rationalität, Wissenschaftlichkeit zu wagen, mit ihrer Relativität auch ihr Recht zur Geltung zu bringen. Irrationale, atheologische Religiosität unterbietet das Prinzip Religio gerade heute.

2. Dimension: Glaube sucht das Leben (fides quaerens vitam). Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik hatte lange Zeit die Hoffnung auf eine umgreifende Gestaltbarkeit der Realität erzeugt. Dieser Optimismus ist erlahmt. Einerseits stießen wir auf die Grenzen, die vom Substrat der Natur und der Gesellschaft menschlichem Gestaltungswillen gesetzt sind, andererseits gibt es so etwas wie die Verwirrung durch totale Transparenz. Wenn alles erkennbar und durchschaubar wird, wie soll ich mit so viel Erkennbarkeiten und Durchschaubarkeiten umgehen ohne den Verdacht, von anderen, die noch mehr - oder doch nicht so viel? - durchschauen und kennen, manipuliert zu sein. Die einfachen und elementaren Aussagen etwa des Evangeliums gewinnen hier eine Deute- und Weisungskraft für den Menschen. Nur eine reflektierte Aneignung bewahrt indessen davor, aus dem Glauben eine Ideologie fundamentalistischen Bewahrens oder Veränderns werden zu lassen. Entscheidend ist jedoch über die Reflexion hinaus ein weiterer Schritt: Die Übersetzung ins persönliche Leben. Die Plausibilität des Evangeliums wächst allein dort, wo ich mich auf jenen Weg begebe, auf welchem das Evangelium ist: Auf den Weg der Nachfolge. Persönliche Verbindlichkeit, Einübung ins Durchtragen von Entscheidungen und Einsichten auch dann, wenn Erfahrung und Empfindung wieder zu entgleiten drohen, sind hier ganz entscheidend. Reflexion und Nachfolge, Erlebnis und Treue, Verstehen und Leben schließen sich auf dem Weg des Glaubens gegenseitig ein, haben sich wechselseitig zur Voraussetzung und Folge. Nur auf einem solchen Weg kann Religio im Leben des einzelnen und der Gesellschaft mächtig werden. Eine Gemeinschaft von Weggenossen mit vergleichbarem Erfahrungshorizont ist hierfür eine unschätzbare Hilfe.

3. Dimension: Glaube sucht Gemeinschaft (fides quaerens communionem). Christlicher Glaube ist von allem Anfang an auf das Miteinander, auf die gemeinsame Nachfolge angelegt. Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch schließt unweigerlich die Gemeinschaft zwischen Mensch und Mensch ein. Die heute gerade fälligen Grundworte solcher Gemeinschaft heißen: Zelle und Netz. Die bloß umfassende Gemeinschaft ist zu fern, zu schematisch, um zu tragen. Die isolierte Zelle wird zum Getto, trägt nicht das Ganze und wird nicht von ihm getragen. Gemeinschaft, gerade Gemeinschaft des Glaubens, bedarf ebenso der inneren Entschiedenheit, wie der Offenheit nach außen. Communio ohne confessio gibt es nicht. Nur auf dem Boden einer klaren confessio ist auch der Dialog nach außen möglich. Wo Reflexion, lebensmäßige Verbindlichkeit und Gemeinschaft im erfahrbaren Raum und zugleich über ihn hinaus ins Ganze hinein zu erlebbaren und gestalteten Dimensionen des Lebens werden, da wird Religio zur Kraft, nicht nur das Leben des einzelnen und seiner Gemeinschaft zu prägen, sondern die Frohe Botschaft des Christentums für Gesellschaft und Menschsein fruchtbar zu machen. Verantwortete Hoffnung, gestaltetes Leben, tragfähiges Miteinander: Danach ruft unsere Situation.

Klaus Hemmerle